23. Kapitel
David beobachtete geduldig die Aktivitäten im Haushalt von Shelton Hall. Unter dem Personal war Hektik ausgebrochen, aber das war kein Wunder, denn der Hausherr war zurückgekehrt. Er hätte gegrinst, aber seine Handflächen juckten. Und wenn die juckten, war das immer ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmte.
»Das ist fast zu leicht«, lachte Ralph. David packte den Idioten beim Kragen und zog ihn in den Schatten der alten Eiche zurück. Woher nahm Mr. Livingston bloß all diese Idioten? Er hatte seinem Boss schon oft gesagt, dass er einen Auftrag wie diesen am besten allein erledigte. Die anderen Clowns, die Livingston angeheuert hatte, störten ihn bloß, aber der Herr wollte ja nicht auf ihn hören. Narr! Die Welt war voller Narren. Das Einzige, was sie erträglich machte, war ihr Geld. Und Livingston war kein Geizkragen.
Er riss seinen Blick von dem palastähnlichen Anwesen los und musterte seinen Komplizen mit schmalen Augen. »Von wegen leicht!«, zischte er. »Wir sind in der Unterzahl, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«
»Schon, aber das sind doch bloß Dienstmägde und ein paar piekfeine Butler. Die haben doch keine Ahnung vom Kämpfen.«
Davids Nasenflügel bebten irritiert. »In diesem Haus gibt es siebenundvierzig Dienstboten, die dir alle mit dem nächstbesten Gegenstand, der ihnen in die Finger kommt, deine blöde Fresse einschlagen würden! Die Leute hier sind loyal und verschwiegen.«
Und das stimmte. Er hatte in den letzten Wochen mehrmals versucht, einen von ihnen zum Reden zu bringen, aber nicht einmal der einfachste Küchenjunge ließ sich bestechen, wie David sich unwillig, aber mit wachsendem Respekt vor dem Geschwisterpaar, dem die Residenz gehörte, eingestehen musste.
Zu schade, dass er einen von ihnen umlegen musste.
»Behalt das Haus im Auge und deinen Hintern im Schatten«, befahl er und ließ den Mann mit einem Schubs los. Zum Teufel mit ihm! Soeben überquerten zwei Pferdeknechte den Hof und verschwanden in einem der beiden Ställe. Davids Blick huschte über die Fassade des Herrenhauses: zwanzig Fenster und kein Mensch zu sehen. Das war ungewöhnlich. Er vermutete, dass Belanow sein gesamtes Personal zusammengerufen hatte. Verdammt, er wünschte, er wüsste, was er zu ihnen sagte. Dinnermenüs? Sonstigen Wirtschaftskram? Er brauchte unbedingt einen Spion im Haus.
Seine Aufmerksamkeit wurde auf die Seitentür gelenkt, wo soeben zwei Dienstmägde aus der Küche traten, jede mit einem Korb in der Hand. Ihre Gesichtszüge konnte er nicht erkennen, denn sie trugen Kopftücher. Wahrscheinlich gingen sie einkaufen. Zum Markt. Eigentlich viel zu früh dafür. Seltsam. Aber mit der Rückkehr des Herrn geriet natürlich auch die sonstige Routine durcheinander.
»Was glaubst du, was er angestellt hat?«, wollte Ralph wissen.
»Wer?«, fragte David zerstreut und beobachtete, wie in diesem Moment ein Pferdekarren vorfuhr und vor den Dienstmägden anhielt. Zwei Kutscher? Warum zwei? »Wahrscheinlich werden sie besonders viel einkaufen«, murmelte er.
»Hä?«
»Nichts. Also, was willst du?«
Ralph machte eine beleidigte Miene, aber dann wiederholte er: »Hab bloß überlegt, was er wohl angestellt hat, der feine Pinkel, dass wir ihn umnieten sollen.«
Nach Davids Erfahrung musste man gar nichts angestellt haben, um mörderischen Neid zu erregen, man brauchte bloß etwas zu besitzen, das ein anderer haben wollte.
»Was spielt das für eine Rolle?«
Aber Ralph fuhr fort zu spekulieren, ohne sich von der abweisenden Reaktion seines Kumpanen abschrecken zu lassen. »Muss dem Livingston wohl seine Frau weggenommen haben, das muss es sein. Warum hat er uns sonst befohlen, das Weib und die Kinder zu schnappen?« Zufrieden grinsend über seine intelligente Schlussfolgerung, zog Ralph ein gefährlich scharfes Messer aus seiner Hosentasche und begann sich den Dreck unter den Nägeln herauszupulen.
David spuckte verächtlich aus. »Das sind doch keine Livingstons. Unser Mr. Livingston ist doch selbst bloß 'n Mittelsmann. Die haben ihn angeheuert, so wie er uns. Damit wir, wenn sie uns kriegen sollten, den großen Oberboss nicht verpfeifen können, der hinter allem steckt.«
»Ach ja, und woher willst du das wissen?«, höhnte Ralph.
»Mr. Livingston. Er redet so komisch, ist dir das noch nie aufgefallen? Der tut nur so, als wäre er ein feiner Pinkel. Aber wenn er wütend wird, verrät er sich, dann flucht er wie ein Bierkutscher. Der ist nicht anders als wir, hat bloß feinere Sachen an. Aber der hat sich sein Geld erschwindelt, da kannst du Gift drauf nehmen!«
Das Knacken von Ästen ließ David blitzschnell herumfahren und sein Messer zücken. Aber als er sah, wer da kam, steckte er seine Waffe wieder weg. Diese drei hatte er kurz bei Livingston gesehen. Langsam traten sie näher.
»Ist er da?«, fragte einer der drei, ein Glatzköpfiger. Sein herrischer Ton gefiel David gar nicht.
»Ihr seid ihnen also gefolgt, was?« Er schaute den Glatzkopf durchdringend an. Falls der Bastard glaubte, ihn mit seiner Statur einschüchtern zu können, täuschte er sich. Dem hätte er das Messer in den Bauch gerammt, bevor er »Warum?« fragen konnte.
»Wir haben sie fast gehabt, vor zwei Tagen. Aber dann sind sie uns doch entkommen«, gestand ein anderer, mit einem vernarbten Gesicht.
David nickte. Der gefiel ihm schon besser. Ein Mann, der einen Fehler zugeben konnte, konnte auch daraus lernen. »Ja, sie sind da.«
»Also gut, dann los.« Der Glatzkopf machte Anstalten, auf das Haus zuzugehen. Davids Messer saß ihm an der Kehle, bevor er Luft holen konnte.
»Einen Schritt weiter und ich schlitz dir die Kehle auf«, zischte er. Die anderen Halunken standen starr vor Schreck um ihn herum, aber die Augen des Glatzkopfs funkelten vor Wut. Das freute David. Es war in letzter Zeit recht langweilig gewesen. Er drückte dem Mann die Klinge so fest an den Hals, dass Blut zu sickern begann.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, ist euer letzter Anschlag auf Belanow schiefgegangen. Hier hab ich das Sagen, Freundchen. Es wird keine Fehler mehr geben und keinen, der mir meinen Platz streitig macht! Noch ein Mucks von dir und ich stech dich ab. Und dann steche ich Belanow ab und wische die Klinge an deinen Klamotten ab.«
Stille.
»Was sollen wir also tun?« Wieder war es der Narbige, der den meisten Grips zeigte.
David fasste die Bande scharf ins Auge. Als er ihre ängstlichen Gesichter sah, war er zufrieden. Er ließ den glatzköpfigen Riesen los und trat zurück.
»Abwarten. Und wenn sich die richtige Gelegenheit bietet, schlagen wir zu. Nicht vorher.«
Die Abenddämmerung brach bereits rotglühend herein, als Mikhail mit klopfendem Herzen zu den Ställen schritt. Wenn sie ihn beobachteten, wie er vermutete, dann würden sie erkennen, dass sich ihnen hier eine einmalige Gelegenheit bot, sich unbemerkt an ihn ranzumachen. Zumindest hoffte er, dass sie das glaubten. Er ließ die Stalltür halb offen stehen und trat ins Halbdunkel.
Mikhail konnte die Männer, die sich hinter den Heuballen versteckten, zwar nicht sehen, aber er spürte ihre Anwesenheit. Gleich würden sie erfahren, ob ihr Plan funktionierte oder nicht. Die Hand auf dem Griff der Pistole, die er unter seinem Hemd versteckte, näherte er sich der ersten Box. Plato, das braune Fohlen, das seine Schwester nach ihrem Lieblingsphilosophen benannt hatte, begrüßte ihn mit einem freudigen Schnauben. Mikhail streichelte die weichen Nüstern des Tiers, wobei er angestrengt zum Eingang hin lauschte.
»Guter Junge«, sagte er laut, damit sie seine Stimme hören konnten. Er wollte, dass die Bastarde möglichst weit in den Stall hineinkamen, damit sie seine Männer im Rücken hatten. »Guter Plato.«
Ein leises Schlurfen wie von Schritten, ein lauter Wutschrei. Mikhail riss seine Pistole hervor und wirbelte herum.
»Keine Bewegung!«
Die Pistole auf den Kopf eines glatzköpfigen Riesen gerichtet, trat Mikhail aus der Box heraus. Der Riese war wie angewurzelt stehen geblieben, die Augen gebannt auf die Pistole gerichtet. Seine drei Kumpane hinter ihm wurden von vier seiner Knechte und dem Wildhüter, die ebenfalls mit Pistolen und Gewehren bewaffnet waren, in Schach gehalten. Mikhail ließ den Riesen, der eine Pistole in der Hand hielt, keine Sekunde aus den Augen. »Waffe fallen lassen, sofort! Oder ich schieße!«
Der bullige Mann zögerte einen Moment, schien die Situation und seine Möglichkeiten abzuwägen, dann ließ er die Waffe fallen. Die Stallknechte traten rasch vor. Ihre Blicke huschten fragend zwischen ihren Gefangenen und ihrem Herrn hin und her.
Mikhail traf eine rasche Entscheidung. Er schlug dem Giganten den Griff seiner Pistole an die Schläfe, sodass dieser bewusstlos zusammenbrach. »Schlagt sie k.o., damit sie keine Schwierigkeiten machen können. Dann fesselt sie, und verbindet ihnen die Augen. Ich werde gleich wieder da sein.«
»Jawohl, Prinz«, antworteten seine Männer. Es waren gute Männer, die schon lange in den Diensten seiner Familie standen. Er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Jetzt, wo die Gefahr vorbei war, musste er überlegen, wie er die Gefangenen am besten zum Sprechen bringen konnte.
Mikhail verließ den Stall, überquerte den Hof und betrat das Anwesen durch den Seiteneingang. Er musste schleunigst einen Brief an Patrick und Alexander schicken. Weder wollte er die Gefangenen allzu lange unter der Obhut seiner zwar willigen, aber nicht zu Soldaten oder Polizisten ausgebildeten Leute hier behalten, noch wollte er sie ohne fachmännische Bewachung abtransportieren lassen. Er würde die Schurken hierbehalten, bis die Vampire eintrafen. Die konnten immerhin Gedanken lesen, was das Verhör sehr erleichtern würde.
Tief in Gedanken versunken betrat Mikhail sein Arbeitszimmer und schritt auf den Schreibtisch zu. Den Mann, der in einem Sessel saß, bemerkte er nicht.
»Ich habe auf Sie gewartet, Belanow.«
Wieso hatte er nicht mit einer solchen Möglichkeit gerechnet? Zur Hölle noch mal!
»Was wollen Sie?«
David begutachtete grinsend seinen Revolver. »Ist doch offensichtlich, oder? Ich will Sie umbringen. Aber zuerst verraten Sie mir, wo die Frau und die Kinder sind!«
Mikhail überlegte blitzschnell. Wenn er starb, würde der Bastard Nell und die Kinder verfolgen. Das durfte er nicht zulassen. Sie waren nicht sicher, solange sie allein unterwegs waren. Erst in London wären sie halbwegs geschützt. Zwar hatten sie fast einen ganzen Tag Vorsprung, aber das genügte nicht.
»Sie sind nicht hier.«
»Ach ja?« Der Schurke schien ihm nicht zu glauben. »Und wie soll das zugegangen sein? Ich habe das Haus nämlich seit Tagen nicht aus den Augen gelassen, Belanow. Sie sind noch hier.«
Mikhail log nur selten, aber wenn er es tat, war er gut darin. Der Trick war, so dicht wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. »Nein, sie sind fort. Sie waren als Dienstmägde verkleidet.«
»Der Pferdekarren!« David sprang erzürnt auf. »Wusste ich's doch! Verdammtes Jucken!«
Mikhail hatte keine Ahnung, was der Mann meinte, und es war ihm auch egal. Sein Blick war auf den Brieföffner gefallen, der auf dem Schreibtisch lag. Langsam und unter dem Vorwand, sich zu fürchten, wich er zum Schreibtisch zurück. »Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie wollen, aber wer immer Sie auch bezahlt, ich verdopple das Angebot.«
David grinste zufrieden und trat einen Schritt näher. Es gefiel ihm, dass er seinen Gegner eingeschüchtert hatte. »Sie werden mir jetzt sofort verraten, wo sie sind.«
Die Augen ängstlich auf die Waffe seines Gegners gerichtet, die Hände abwehrend vorgestreckt, wich Mikhail noch einen Schritt zurück. »Verschonen Sie mich, wenn ich es Ihnen verrate?«
David gluckste. »Na klar. Also, wo sind sie?«
Der Brieföffner war nun in Reichweite, sein Gegner aber noch nicht. Mikhail beschloss ihn zu provozieren, um ihn anzulocken. »Und das soll ich glauben? Sie sind ein dreckiger Lügner. Aus mir kriegen Sie nichts raus!«
Sein Plan funktionierte. Zu gut sogar. Mikhail krümmte sich stöhnend unter einem unerwarteten Magenschwinger seines Gegners.
»Und jetzt raus mit der Sprache! WO SIND SIE?«
Mikhail hielt keuchend den Kopf gesenkt, während er verstohlen den Brieföffner lokalisierte. Ihm blieb nur ein einziger Versuch. Wenn der fehlschlug, war sein Leben verwirkt.
Und möglicherweise auch das von Nell und den Kindern.
David packte Mikhail am Hemd, um ihn hochzureißen. Die Hand, in der er die Waffe hielt, hing lose an seiner Seite herab.
»ICH SAGTE ...«
Seine Worte erstickten in einem Gurgeln. Der Brieföffner steckte in seiner Kehle, und Blut sprudelte hervor, während Mikhail seinem Angreifer bereits die Pistole entwand.